SANDERS WERK AUF DER FOLIE SEINER EIGENEN FOTOGESCHICHTE

AUGUST SANDER – WESEN UND WERDEN SEINER FOTOGRAFIE

August Sanders WDR-Vorträge „Vom Wesen und Werden der Fotografie“ (1931)


Unter dem Titel „Wesen und Werden der Photographie“ hält August Sander an sechs aufeinander folgenden Sonntagen im Frühling 1931 Vorlesungen über das, was aus seiner Perspektive die Geschichte und den Gebrauch der Fotografie als Bildmedium ausmacht. In einer Zeit, in der die Historiografie der Fotografie eine bis dahin ungekannte Blüte erreicht, trifft August Sander damit den Zeitgeist. Er stellt seine aus der fotografischen Praxis stammende Sicht auf die Fotografie neben grundlegende Publikationen, die aus der Feder der Fototheoretikers Erich Stenger („Geschichte der Fotografie“, 1929) Helmut Theodor Bossert und Heinrich Guttman („Aus der Frühzeit der Photographie, 1840-1870“, 1930), Heinrich Schwarz („David Octavius Hill, der Meister der Photographie“, 1931) und Walter Benjamin („Kleine Geschichte der Photographie“, 1931) stammen. 

August Sanders Vorlesungen zur Geschichte der Fotografie wurden Sonntagmorgens zwischen 8:30 und 8:55 Uhr zu einer Sendezeit ausgestrahlt, die sich mehr an ausgesprochene Liebhaber der Fotografie richtete, als an ein breites Publikum. Die Worte des Fotografen konnten jedoch weit über die Stadtgrenzen Kölns gehört werden: Die Westdeutsche Rundfunk AG strahlte seit 1927 über den leistungsstarken Mittelwellensender Langenberg aus, der zu dieser Zeit der stärkste Rundfunksender Europas war und mitunter sogar in den USA und Australien empfangen werden konnte.

August Sanders Geschichte der Fotografie eröffnet eine spannende Perspektive auf das technische Bildmedium aus der Feder eines etablierten Fotografen. Sander ermöglicht uns durch seine Betrachtungen der Fotografie und ihrer Geschichte ein um vieles tiefer reichendes Verständnis seiner Arbeiten, als jede rekonstruierende und interpretierende Lesart es je liefern könnte –

denn wer könnte uns das fotografische Œuvre August Sanders näherbringen, als August Sander selbst?

AUGUST SANDER UND SEINE FOTOGESCHICHTE


Sander beschreibt seinen Hörern am 29. März 1931 in seinem dritten Rundfunkvortrag „Wesen und Werden der Fotografie. Die Photographie um die Jahrhundertwende“ seine eigene Auseinandersetzung mit der Fotografie und geht dabei sowohl auf technische, als auch auf ästhetische Modalitäten ein: „Mein erster Photoapparat war für mich der gleiche Wunderkasten, wie für alle, die noch nie damit umgegangen waren. Meine ersten gelungenen Aufnahmen machten mir selbst eine ungeheure Freude, weniger aber meiner Umgebung, da die Falten auf den Gesichtern verpönt waren und als unschön galten. Eine unberührte Liebhaberphotographie konnte eben gegen die geschmacklosen Photos der Berufsphotographen jener Zeit nicht aufkommen. Da ich aber ein großes Interesse an der Photographie hatte, machte ich den Weg aller Berufsphotographen durch. Mein Lehrmeister war noch ein Photograph der 2. Epoche, der Zeit des handwerklichen Könnens [...]“1

Unter dieser altmeisterlichen zweiten Epoche der Fotografie versteht August Sander jene Zeit in der Entwicklung der fotografischen Verfahren, als die Fotografie kein experimentelles Medium mehr war und die Industrialisierung und Kommerzialisierung bereits so weit voran geschritten war, dass ein Atelierfotograf ohne große technische oder chemische Hürden seinem Beruf nachgehen konnte, die Fotografie allerdings noch nicht den von Zeitgenossen oft thematisierten Abstieg in den ästhetischen Verfall zum Ende des 19. Jahrhunderts eingeläutet hatte. Eine Zeit also, in der das handwerkliche Können blühte.

Da ich aber ein großes Interesse an der Photographie hatte, machte ich den Weg aller Berufsphotographen durch.

Ein erster Kontakt zur Fotografie


Zu Beginn der 1890er Jahre kam August Sander erstmals mit der nun den Kinderschuhen entwachsenen und für Amateure leicht zugänglichen Fotografie in Kontakt. Er durchschritt daraufhin im Schnelldurchlauf die bis dahin entwickelte Verfahrensgeschichte und übte sich mitunter in Verfahren und Techniken, die von den stetigen Verfahrensverbesserungen und Weiterentwicklungen bereits überholt worden waren. Um das Fotografieren zu erlernen ging Sander nach ersten autodidaktischen Gehversuchen in die Lehre bei einem Atelierfotografen und bildete sich zudem durch die Lektüre fotografischer Hilfsliteratur fort. Sanders Sohn Gunther berichtet anekdotisch, dass seinem Vater nach einer ersten Begegnung mit dem Wanderfotografen Friedrich Schmeck ein Lehrbuch versprochen wurde, das den jungen Amateur schließlich auf dem Postweg erreichte.2 Seine ersten theoretischen Kenntnisse erlernte August Sander, wie viele seiner Zeitgenossen, also aus einem fotografischen Handbuch, der damals gängigsten Publikationsform fotografischer Hilfsliteratur. Zudem war August Sander Abonnent der seit 1894 erhältlichen „Photographische[n] Chronik“, einer wöchentlichen Rundschrift, die sich mit den Fortschritten und Verbesserungen im Gebiet der Fotografie auseinandersetzte und diese einem Fachpublikum aber auch interessierten Laien zu vermitteln suchte. Fotografische Journale widmeten sich zudem der Geschichtsschreibung der Fotografie parallel zu ihrer (Weiter-)Entwicklung; es ist also denkbar, dass Sander hierin Inspirationen für seine Rundfunk-Vorlesungen fand. [Abb. Titelei photogr. Chronik]

August Sanders Interesse an der Geschichte der Fotografie und seine eigene Verortung und Eingliederung in die Fotohistorie manifestierte sich auch in einem Baudetail seiner Wohnung in Lindenthal: in die Tür zu seinem Arbeitszimmer war eine Buntglasscheibe eingesetzt, die nicht nur eine grafisch abstrahierte Plattenkamera auf einem Stativ und das Geburtsjahr der Fotografie zeigt, sondern auch die Porträts der französischen Erfinder der Fotografie, Louis-Jacques-Mandé Daguerre und Nicéphore Niépce.

SANDERS EIGENE „EPOCHEN“ DER FOTOGRAFIE


In seinem 6. Rundfunkbeitrag „Wesen und Werden der Fotografie. Der heutige Stand der fotografischen Praxis“ vom 19. April 1931 definiert Sander die unterschiedlichen Epochen der Fotogeschichte: „Zur Darstellung der verschiedenen Epochen in der Photographie wäre noch zu sagen, dass die erste Epoche mit der Erfindung der Photographie begann. Die Zweite nahm ihren Anfang mit der Erfindung der Collodiumplatte und endete mit Verfall der Photographie im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Die dritte Epoche begann mit der malerischen Photographie und endete nach dem Weltkrieg und von da an nahm dann die vierte Epoche, in der sich die Photographie jetzt findet, ihren Anfang.“3 Bemerkenswert ist, dass sich August Sander selbst an allen diesen Epochen abgearbeitet hat. Er übte sich in unterschiedlichen, mitunter bereits aus der Mode gekommenen, fotografischen Techniken, um schließlich zu seinem bevorzugten Verfahren zu finden: Gelatinesilberabzüge von Glasplattennegativen und Planfilm. An diesem Verfahren hielt Sander seine ganze Karriere über fest und sperrte sich auch dagegen seine Plattenkamera gegen eine kompaktere Kamera einzutauschen, wie etwa die handliche Leica.

Die erste Epoche der Fotografie: Pionierarbeit

Die „erste Epoche“, die Pionierarbeit der Fotografie, würdigt Sander als Liebhaber der Daguerreotypie. Er schreibt: „Die Daguerreotypie in ihrer Vollendung gehört zu den kostbarsten Schätzen der Photographie und hat Sammler- und Liebhaberwert. Auf ihr begründet sich die neue Anschauung über die Photographie der Neuzeit.“ Für August Sander beginnt die Geschichte der Fotografie also ganz eindeutig in Frankreich mit dem von Louis-Jacques-Mandé Daguerre und Nicéphore Niépce entwickelten Verfahren und nicht etwa in England mit William Henry Fox Talbots kalotypischem Positiv-Negativ-Verfahren. In seiner frühen Arbeitsphase – mit Stationen in Herdorf, Linz und Trier – fertigte Sander vor allem kommerzielle Atelieraufnahmen in den gängigen Formaten der Carte-de-Visite (5.4 x 8.9 cm) und den größeren Kabinettkarten (10.8 x 16.9 cm) an. Er bedient sich mit der Fotografie auf Kollodiumtrockenplatten eines Verfahrens, dass seiner „zweiten Epoche“ der Fotografie entstammt.

 


Der „Verfall der Photographie“ im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, das Verfallsnarrativ, das August Sander in seinen Ausführungen für den Rundfunk aufgreift, ist ein geläufiges Topos, das die Industrialisierung und Kommerzialisierung der Atelierfotografie meint, die sich in standardisierten Posen und überbordender Staffage, sowie einem vermeintlichen Niedergang des guten Geschmacks in der breiten Öffentlichkeit niederschlug. Obwohl August Sander sich immer wieder selbst gegen diese Erstarrung in festgeschriebene Posen und Staffageobjekte ausspricht, finden sich in seinen Atelierporträts um die Jahrhundertwende doch genau diese Versatzstücke. Einerseits ein Verweis darauf, dass der gängige Geschmack der Kundschaft die Arbeit des Porträtfotografen beeinflusste und andererseits eine wichtige Etappe in der Entwicklung der fotografischen Ästhetik August Sanders: [BLOCKQUOTE] Von der zum gesellschaftlichen Inventar gehörenden, dem 19. Jahrhundert entstammenden Atelierfotografie zum neusachlich-humanistischen Porträt des 20. Jahrhunderts. [/BLOCKQUOTE] Wirft man einen Blick in sein fotografisches Atelier in Linz [Abb. neben Text, Blick in das Linzer Atelier] wird deutlich, dass August Sander sein Studio nach den etablierten Vorstellungen des kommerziellen Fotografengewerbes einrichtete: Flexible Vorhänge regulieren den Lichteinfall, diverse gemalte Prospekte mit unterschiedlichen architektonischen Motiven oder Landschaftseindrücken warten auf ihren Einsatz als Bildhintergrund. Auch beim Bodenbelag kann zwischen Perserteppich und Bärenfell variiert werden und eine Vielzahl an Staffagegegenständen und Mobiliar kann den Porträtierten individuell während der Aufnahme zugeordnet werden. Kurz: im Grunde befindet man sich in Walter Benjamins „Folterkammer“ der Atelierfotografie. Kein Wunder also, dass August Sander sich diesen erstarrten Rahmenbedingungen des fotografischen Ateliers abwandte und seine späteren Porträtarbeiten in einem deutlich reduzierten Setting aufnimmt.

Piktorialismus und Kunstfotografie um die Jahrhundertwende

Die von Sander als „dritte Epoche“ der Fotografie definierte Zeit, fällt mit seiner eigenen künstlerischen Entwicklung und seiner Etablierung als (kommerzieller) Fotograf zusammen. Sander partizipierte an der kunstfotografischen Bewegung, die sich seit der Jahrhundertwende großer Beliebtheit erfreute. Er nahm mit seinen piktorialistischen Edeldrucken erfolgreich an zahlreichen Ausstellungen teil, worüber uns die Medaillen Aufschluss geben, die Sander auf die Rückseite der von ihm hergestellten und verkauften Cartes de Visites drucken ließ. Die kunstfotografische Bewegung – den Piktorialismus setzt August Sander als Anfangspunkt modernistischer Fotografie, die jedoch von der neusachlichen Fotografie der Zwischenkriegsjahre abgelöst wurde – womit wir in der, nach Sander, „vierten Epoche“ der Fotografie angekommen sind, die Zeit, in der sich Sander und sein Schaffen zur Zeit der Rundfunkbeiträge im Frühling 1931 befinden.

 


August Sanders eigene Sicht auf die sachliche Fotografie

August Sanders Entwicklung vom Piktorialismus zur sachlichen Fotografie beschreibt sein Sohn Gunther rückblickend in der folgenden Anekdote: „So nahm er eines Tages eine Vergrößerung eines Bauernporträts auf eine Papiersorte vor, die man sonst nur für technische Aufnahmen benutzte, auf ein glattes Papier mit glänzender Oberfläche. Es hob jede Einzelheit hervor, nichts wurde beschönigt, nichts unterschlagen. Jede malerische Wirkung blieb aus. Als August Sander dieses Bild mit einem Gummidruck nach derselben Aufnahme verglich, war er begeistert, nicht weniger Seiwert, als er es sah. “4

Es hob jede Einzelheit hervor, nichts wurde beschönigt, nichts unterschlagen. Jede malerische Wirkung blieb aus.

Im Gegensatz zur jähen Begeisterung seines guten Künstlerfreundes Franz Wilhelm Seiwert fiel nach Gunther Sander die Reaktion der Kunden, die August Sanders neuen Werke sahen, zunächst kritisch aus: „Von der Kundschaft war allerdings solch ein Abstand zur eigenen Person kaum zu erwarten. Darüber gab sich mein Vater weder Täuschungen hin, noch irritierte ihn die Eitelkeit des Menschen. Vorrangig war nicht die eilfertige Schmeichelei, in der man sich von Kunden gängeln ließ, sondern nach wie vor, als Photograph alles genau so wiederzugeben, wie es das Objektiv aufzeichnete.“5

Die „vierte Epoche“ August Sanders: Erfolg in klarem Schwarzweiß

Die Befürchtung eines kommerziellen Misserfolges dieser neuen, ungeschönten und sachlichen Bildästhetik hat sich keineswegs bewahrheitet. Vielmehr markiert dieser Übergang von der malerischen Ästhetik des Gummi- oder Pigmentdrucks zur klaren und objektiven Schwarzweißfotografie den Beginn der bedeutendsten und langlebigsten Schaffensphase August Sanders. Die von Sander definierte „vierte Epoche“ beschreibt also seine erfolgreichste Produktionsphase in den 1920er und 1930er Jahren, die Zeit in der er an langfristigen Projekten arbeitete – den „Menschen des 20. Jahrhunderts“, „Köln wie es war“ und zahlreichen kleineren Publikationsprojekten –, die Zeit in der er sich in der Kölner Kunstwelt vernetzte und sich endgültig als Porträtist, Reportage-, Landschafts- und Werbefotograf etablierte.

Die Nachkriegszeit und August Sanders Spätwerk

Eine fünfte Epoche, die als Spätwerk des Fotografen gelten darf, erwartete August Sander in den Nachkriegsjahren in Kuchhausen, wohin die Familie 1944 umsiedelte. Sander arbeitete bis zu seinem Tod 1964 weiter. Unter Mitwirkung seiner Frau Anna, seines Sohnes Gunther, seines Enkels Gerd und seiner Assistentinnen fertigte er neue Arbeiten und auch immer wieder Abzüge älterer Negative an und nahm zudem die Arbeit an seinem Langzeitprojekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“ wieder auf, das er in seiner Kuchhausener Zeit kuratorisch überarbeitete, in Mappen ordnete, neue Abzüge anfertigte und so zu einem Abschluss bringen wollte. Gerade auch weil ihm das zu Lebzeiten nicht mehr gelang, hinterließ August Sander ein ungemein komplexes und vielschichtiges fotografisches Werk, das wichtiger Bestandteil des fotohistorischen Kanon geworden ist, trotzdem aber noch viele Unklarheiten und Geheimnisse besitzt, die einer wissenschaftlichen Aufarbeitung bedürfen.

SANDERS VIELSEITIGES WERK


Das Miteinander und die wechselseitige Verschränkung diverser fotografischer Sujets, ist bezeichnend für das Werk August Sanders.

Es handelt sich um ein Gesamtkonzept in dem Gattungsgrenzen verschmelzen und sich Sujets wechselseitig bedingen.

In Sanders Œuvre hat sich der Zeitgeist des von stetigem Wandel und einschneidenden politischen und sozialen Erschütterungen geprägten 20. Jahrhunderts eingeschrieben. In allen seinen Werkgruppen verfolgte August Sander den Anspruch, seine Zeit so wiederzugeben, wie er sie sah, unverstellt und wahrhaftig: „[Ich] moechte [...] nicht unerwähnt lassen, dass uns mittels der Photographie alle Ausdrucksmoeglichkeiten zur Verfuegung stehen. Mit ihr sind wir in der Lage die Wahrheit zu sagen, aber auch Luegen zu verbreiten, mit ihr koennen wir vermitteln die Sprache allen Lebens und Seins, von Land zu Land, von Mensch zu Mensch.“6 Diesem Anspruch folgend hat sich August Sander – der Fotograf, der Chronist – mit seiner fotografischen Historiografie der Menschen, der Natur und der Architektur des 20. Jahrhunderts in die Fotogeschichte eingeschrieben.

KANONISCHE PORTRÄTARBEITEN

Die Bildnisarbeiten August Sanders inspirieren bis heute Porträtfotografen und sind zudem ein visuelles Zeugnis, in das sich der von ungeheurem Wandel geprägte Zeitgeist des 20. Jahrhunderts eingeschrieben und bis heute konserviert hat. Sanders Werk steht im Grunde auf zwei Pfeilern: zum einen Teil ist es kommerziell, das heißt es handelt sich um Auftragsarbeiten die primär dem Lebenserhalt dienten. Zum anderen Teil ist es künstlerisch, was bedeutet, dass sich August Sander Projekten widmete, die ihm am Herzen lagen, aber als Voraussetzung nicht den Gelderwerb hatten.


Antlitz der Zeit (1929)

Zu August Sanders Langzeitprojekten zählt sein Porträtwerk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ – das zu Lebzeiten jedoch niemals vollendet und publiziert werden sollte. Als ein erstes Kondensat dieser jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem Menschen ging 1929 das Buchprojekt „Antlitz der Zeit“ hervor, das von bedeutenden Akteuren der klassischen Moderne wohlwollend rezipiert wurde – unter ihnen Walter Benjamin, Erich Stenger, Walker Evans und Alfred Döblin, der das Vorwort zum Fotobuch verfasste. Die Intention dieses Auswahlbandes beschreibt Sander wie folgt: „Der Urgedanke meines Lichtbildwerkes „Menschen des 20. Jahrhunderts“, welches ich im Jahre 1910 begonnen habe und das etwa 500=600 Photos enthaelt, wovon im Jahre 1929 ein Auswahlband unter dem Titel „Antlitz der Zeit“ erschienen ist, ist nichts anderes als ein Bekenntnis zur Photographie als Weltsprache und der Versuch, zu einem physiognomischen Zeitbild des deutschen Menschen, welches aufgebaut ist auf dem chemisch-optischen Werdegang der Photographie, also der reinen Lichtgestaltung.“7

In seinem Werk sind es besonders diese Porträtaufnahmen, die im kollektiven Gedächtnis untrennbar mit dem Namen August Sander verknüpft sind.

Zu dieser Festschreibung trug bereits Walter Benjamin in seinem Text „Kleine Geschichte der Photographie“ von 1931 bei. Darin bildet er zwei berühmte Porträts aus der 1929 erschienen Publikation „Antlitz der Zeit“ ab: Der Konditor und der Abgeordnete. Benjamin beschreibt die Arbeiten August Sanders als Fallbeispiel gelungener, modernistischer Porträtkunst, die den Anspruch eines unverstellten und wertfreien Blicks auf das Individuum verfolgt: „Der Autor ist an diese ungeheure Aufgabe nicht als Gelehrter herangetreten, nicht von Rassentheoretikern oder Sozialforschern beraten, sondern, wie der Verlag sagt, ‚aus der unmittelbaren Beobachtung’.“8 [Abb. Konditor u. Abgeordnete] [Abb. Seite aus Kleine Geschichte der Fotografie] Die politische Wirkmacht dieser Publikation zeigte sich wenig später. August Sanders Blick auf das Individuum war den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge: die Druckstöcke zu Antlitz der Zeit wurden 1934 zerstört.


Menschen des 20. Jahrhunderts (ab 1925)

Die Arbeit am Langzeitprojekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“ ist eng mit August Sanders kommerzieller Atelierfotografie verwoben, denn erst die Etablierung seines fotografischen Ateliers in Lindenthal (1910-1944) hielt August Sander wirtschaftlich den Rücken frei, sodass er sich eigenen, langfristig angelegten Projekten widmen konnte. Ausschnitte aus diesem Langzeitprojekt wurden 1927 in der Ausstellung im Kölnischen Kunstverein gezeigt und 1929 im Antlitz der Zeit veröffentlicht. Obwohl sich August Sander besonders noch in seiner Kuchhausener Zeit (1944-1964) darum bemühte, sein Mappenwerk in eine geschlossene Form zu bringen und zu diesem Zweck zahlreiche neue Abzüge von im Krieg verloren gegangenen Motiven der Menschen des 20. Jahrhunderts anfertigte, war es dem Fotografen zu Lebzeiten nicht mehr vergönnt, sein Werk fertiggestellt und veröffentlicht zu sehen. Durch die Arbeit von Gunther und Gerd Sander konnte im Jahr 2001 posthum eine siebenbändige Fassung der Menschen des 20. Jahrhunderts veröffentlicht werden.

August Sander gliederte die Individuen in seinem Porträtwerk in sieben Gruppen, aufgeteilt in 45 Mappen, ein. Mitunter fanden die Porträtierten aus seinem Atelier Eingang in die thematischen Mappen, mitunter nahm er nicht-kommerzielle Porträts von Personen auf, die ihm im Stadtraum begegneten. Die Strukturierung in Mappenform erlaubt eine vergleichende Betrachtung von Individuen und fördert so die Bildung einer visuellen Typologie, die sich zu einer fotografisch manifestierten Rundumschau einer Gesellschaft in all ihren Facetten ausarbeitet. Sander widmet sich unterschiedlichen Berufsgruppen – beginnend beim Bauern, über Handwerker, Künstler, Industrielle hin zum Intellektuellen –, er fotografiert Angehörige unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und verewigt bestimmte Akteure der Stadt als Typen der Moderne.

Sanders Panoptikum der klassischen Moderne zeigt die Lycealschülerin und den Konditormeister, die Frau im fortgeschrittenen Intellekt und den Schwachsinnigen.

In den Porträts dieser so unterschiedlichen Individuen des (frühen) 20. Jahrhunderts wird das çà a été des Fotografischen evident: Sie rühren den Betrachter heute noch an, denn durch sie blicken wir auf den Zeitgeist des 20. Jahrhunderts.


Studien, der Mensch (ab 1925)

Sanders Faszination für den Menschen beschränkte sich aber nicht allein auf typisierende Porträtarbeiten und kommerzielle Studioaufnahmen, sondern richtete sich auch auf das Detail, was in seiner Serie „Studien, der Mensch“ sichtbar wird. Sander begann diese Werkgruppe in den 1920er Jahren, setzte die Arbeit daran im zweiten Weltkrieg als eine Gegenmaßnahme zum bedrückenden Alltag fort und fügte in den 1950er Jahren noch weitere Studien hinzu. Diese Serie beschäftigt sich mit Merkmalen des menschlichen Körpers: Händen, der Haut, Augen, Ohren. Obwohl die Detailstudien nicht selten Vergrößerungen von Negativen der „Menschen des 20. Jahrhunderts“ sind, erscheinen sie durch ihre Bildwirkung eher topografisch als porträtartig und stehen den Pflanzen- und Landschaftsaufnahmen Sanders somit vielleicht sogar näher als seinen kanonisch gewordenen Porträtfotografien.


Deutschenspiegel (1962)

Die 1962 noch zu Lebzeiten publizierte Zusammenstellung von Porträts aus Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“ gilt als August Sanders letzte eigene Veröffentlichung. In diesem Band wird bereits die editorische Hand Gunther Sanders deutlich, der seinen Vater an seinem Lebensabend mit der Zusammenstellung der Porträts unterstützte.

DAS GANZHEITLICHE BILDNIS EINER GESELLSCHAFT - TEIL 1: LANDSCHAFTSAUFNAHMEN


Neben seinen freien Porträtarbeiten war August Sander auch kommerzieller Atelierfotograf – er fertigte also Familienbilder, Passaufnahmen etc. an –, war als Werbefotograf tätig und erarbeitete Fotoreportagen. Zudem schuf er einen immensen Korpus an Landschaftsfotografien, die, anders als oft angenommen, weder qualitativ hinter den Porträts abfallen, noch von Sander selbst als zweitrangig klassifiziert worden sind.

Landschaftsaufnahmen

Anders als von früheren Forschungsarbeiten behauptet, kann und sollte Sanders Landschaftsfotografie nicht als Strategie eines inneren Exils während des Nazi-Regimes gewertet werden.

Sanders Landschaftsaufnahmen sind mit seinen Porträtarbeiten verwoben und ein wichtiges Versatzstück im Versuch das Werk des Jahrhundertfotografen zu entschlüsseln und zu verstehen.

August Sander selbst beschreibt diese wechselseitige Durchdringung der beiden Werkgruppen: Er hebt darauf ab, dass der Mensch selbst sich seine Natur schafft, die Landschaft also wie das Bild des Individuums ein Kulturprodukt ist, das formbar ist und im Medium der Fotografie verhandelt werden muss. Auf diese Weise kann - im Sinne Sanders - das Porträt einer Gesellschaft, einer Zeit, einer Geisteshaltung in ihrer Gänze erfasst werden: „Auch in der Landschaft erkennen wir wiederum den menschlichen Geist einer Zeit, den wir vermittels des photographischen Apparates erfassen koennen. Aehnlich verhaelt es sich mit der Architektur und Industrie, sowie mit allen menschlichen Werken im Grossen und im Kleinen. Die durch die gemeinsame Sprache begrenzte Landschaft vermittelt das physiognomische Zeitbild einer Nation.“9

August Sanders Interesse für die Landschaftsfotografie war von Beginn seiner fotografischen Tätigkeit an gegeben und sein Sohn Gunther schrieb am Beispiel seines Vaters gar das Narrativ fort, dass erst der Blick durch die Kamera in Sander die Erkenntnis über das Sublime der Natur weckte – ein Narrativ, das wir bereits von William Henry Fox Talbots ersten fotografischen Überlegungen am Comer See kennen.

Die Fotografie erfindet die Natur im Medium neu – das Naturgegebene, die Technik und der Mensch verschränken sich.

Die Fotobücher der Landschaftsaufnahmen

Vom Verleger Leonard Schwann beauftragt, fertigte August Sander in den 1930er Jahren eine Reihe kleinerer Publikationen zu bestimmten Landschaften an. Diese Heftchen umfassen unterschiedliche Regionen, darunter „Die Eifel“ und „Das Bergische Land“, sowie „Die Mosel“, „Das Siebengebirge“, „Die Saar“ und „Am Niederrhein“.

DAS GANZHEITLICHE BILDNIS EINER GESELLSCHAFT, TEIL 2: ARCHITEKTURFOTOGRAFIE


Dieser Herangehensweise August Sanders – der Überzeugung, dass sich ein ganzheitliches Bild einer Gesellschaft nicht allein durch die Physiognomie und Typisierung von Menschen zeichnen lässt, sondern durch die sie umgebende Natur und kulturellen Gefüge ergänzt werden muss – ist auch Sanders Architekturfotografie verhaftet.

Köln wie es war (1953)

In seinem langjährigen Projekt „Köln wie es war“ dokumentierte Sander Aspekte des Kölner Stadtbildes, die identitätsstiftend und kulturprägend für die Stadt, die Menschen in ihr und die Zeit, in der sie lebten, waren. Sander begann dieses Projekt in den Zwischenkriegsjahren, verkaufte das Bildmappenwerk allerdings erst 1953 an die Stadt Köln. Zum Zeitpunkt der Übereignung war dieses Werk auf 412 Abzüge gewachsen, die in 16 handgefertigten Leinenmappen gefasst waren und einschließlich der Negative verkauft wurden. August Sander beschreibt dieses Werk selbst wie folgt:

„Sehen und beobachten des Volkes brachte mich auf den Gedanken, Köln im Bilde festzuhalten, wofür mir die Photographie sehr geeignet schien.

„Köln war im ersten Weltkrieg von aller Zerstörung verschont geblieben, und so begann ich mit meinem Werk kurz nach dem Weltkrieg. Den Grundstock meiner Arbeit hatte ich schon durch eine Sammlung guter Aufnahmen gelegt, jedoch ohne sie zu formen. Mit jeder Aufnahme wuchs auch meine Begeisterung, so daß ich mich heute sehr freue ‚Köln wie es war’ im Bilde festgehalten zu haben.“

Auftragsarbeiten

In August Sanders Werk finden sich Architekturdokumentationen, die Zeugnis ablegen über die architektonische Moderne in Köln. So fotografierte Sander 1936 das neu fertiggestellte Allianz Gebäude. In dieser Reihe an Fotografien ergänzen sich Sanders unverstellter, sachlicher Blick und die modernistische Architektur wunderbar:

Ein weiteres Beispiel für Sanders kommerzielle Architekturfotografie ist die Zusammenarbeit mit dem Wuppertaler Architekten Heinz Dickmann (1901-1987). Sander fotografierte Wohnhäuser unterschiedlicher Stände, Geschäftshäuser und ihr Interieur und fertigte zudem das Porträt des Architekten selbst an.

DER GENAUE BLICK: FORMSTUDIEN


August Sanders Nähe zur neusachlichen Ästhetik zeigt sich besonders in seiner Werbefotografie und seinen Pflanzenstudien.

Werbefotografie

In August Sanders Werbeaufnahme für den WDR aus dem Jahr 1930 stehen sechs glänzende Christbaumkugeln im Zentrum. Die Kugeln liegen in einer Schachtel aus Papier, in ihnen reflektiert sich nicht nur das Licht, sie zeigen auch die Spiegelung eines Wohnzimmers mit Tannenbaum. Der Fotograf und seine Kamera sind jedoch – durch geschickte Positionierung und Retusche – nicht zu erkennen.

Pflanzenstudien

Die 1930 aufgenommene und sorgfältig komponierte und ausgeleuchtete Pflanzenstudie eines Ginko Zweiges erinnert einerseits an die architektonischen Pflanzenaufnahmen Karl Blossfeldts und andererseits an die neusachlichen Formstudien der 1920er und 1930er Jahre wie sie etwa Elfriede Stegemeyer und Raoul Haussmann anfertigten. Doch nicht nur diese augenscheinlichen Referenzen bestechen an dieser qualitätsvollen Pflanzenstudie, auch eine in der Forschung bisher noch wenig beachtete Ebene schwingt hier mit: August Sanders große Liebe zu Goethe.

Quellen


  1. August Sander, Wesen und Werden der Photographie, 3. Vortrag, 1931, Blatt 2.
  2. Gunther Sander, „Aus dem Leben eines Photographen“, in: August Sander. Menschen ohne Masken, Luzern u. Frankfurt a.M.: C. J. Bucher 1971, S. 285 – 295, hier: S. 286.
  3. August Sander, Wesen und Werden der Photographie, 6. Vortrag, 1931, Blatt 2.
  4. Gunther Sander, August Sander. Menschen ohne Masken, Luzern u. Frankfurt a.M.: C. J. Bucher 1971, S. 304.
  5. Gunther Sander, August Sander. Menschen ohne Masken, Luzern u. Frankfurt a.M.: C. J. Bucher 1971, S. 304.
  6. August Sander, Wesen und Werden der Photographie, 5. Vortrag, 1931, Blatt 5.
  7. August Sander, Wesen und Werden der Photographie, 5. Vortrag, 1931, Blatt 6 f.
  8. Walter Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“, in: Die literarische Welt, Nr. 40, 1931, S. 7.
  9. August Sander, Wesen und Werden der Photographie, 5. Vortrag, 1931, Blatt 10.