Bereits in seinen Linzer Jahren war August Sander mit einem Kreis von Künstlern, Musikern und Intellektuellen befreundet. Diese Vorliebe setzte sich auch in Köln weiter fort und führte zu angeregtem Austausch. Auf diese Weise entstand im Hause Sander eine umfangreiche Kunstsammlung, die einen anschaulichen Querschnitt durch die Kölner Kunst der 1930er Jahre bildet.
August Sander lebte gerne umgeben von Kunst und sorgte für einen lebendigen Wechsel der Arbeiten in seinem Haus. […] Über dem Ofen in seinem Arbeitszimmer in der Dürener Straße 201 hingen beispielsweise zwei Photoportraits von Franz Wilhelm Seiwert und Heinrich Hoerle.Anne Ganteführer-Trier, in: Zeitgenossen 2000.
August Sander gelang es, eine große Zahl dieser Kunstwerke durch die bewegte Zeit des Zweiten Weltkriegs zu retten und zu bewahren. Sein Enkel Gunther Sander hat sich dem Erhalt, der Rekonstruktion und weiterem Aufbau dieser besonderen Sammlung verschrieben, die das wechselseitig anregende Verhältnis von August Sander und den Kölner Progressiven dokumentiert. Heute umfasst die Sammlung, die von der August Sander Stiftung betreut wird, mehrere hundert Objekte von über künstlerischen Positionen.
Die Werke der Sammlung Sander wurden bereits in zahlreichen Sonderausstellungen von internationalen Museen thematisiert und kontextualisiert, darunter ‚Los progresistas de Colonia. August Sander y su circulo de amigos. 1920-1933‘ (Fundación Municipal de Cultura, Vallaloid 2011), ‚August Sander. Albums‘ (Le Point du Jour, Cerbourg 2016), ‚Jankel Adler und die Avantgarde‘ (Von der Heydt Museum, Wuppertal 2018) und ‚Aftermath: Art in the Wake of World War One‘ (Tate Britain, London 2018).
Die Kölner Progressiven zählen gemeinsam mit Dada Köln und dem Jungen Rheinland, zu den wichtigsten künstlerisch-politischen Bewegungen am Rhein während der Weimarer Republik (1919-1933). Sie bilden einen Gegenpol zu den Positionen der Neuen Sachlichkeit, vertreten durch Otto Dix oder George Grosz. In Zusammenhang mit einer großen Retrospektive des Kölner Museum Ludwig über die Künstlergruppe bezeichnete Kasper König diese 2008 als „Kölns wichtigsten Beitrag zur Kunst der Weimarer Zeit“.1
Mit ihnen verbunden waren bildenden Künstler, Grafiker, Architekten und auch der Fotograf August Sander. Zu den Hauptvertretern der Gruppe progressiver Künstler, wie sie auch genannt wurde, zählten die Maler Franz Wilhelm Seiwert, Heinrich Hoerle und der Grafiker Gerd Arntz. Weiterhin Marta Hegemann, Anton Räderscheidt, Jankel Adler, Gottfried Brockmann, August Tschinkel sowie Otto Freundlich. Auch der Architekt Wilhelm Riphahn wird in Verbindung mit den Kölner Progressiven genannt. Als feste Künstlergruppe können die Kölner Progressiven jedoch genau genommen nicht bezeichnet werden. Die Vereinigung hielt ihre Ziele und Absichten nicht in einem Manifest oder während einer konstituierenden Versammlung fest. Jedoch veröffentlichten sie in ihren zentralen Organen, den Zeitschriften ‚stupid‘ und ‚a bis z‘, die von Heinrich Hoerle herausgegeben wurde.
"Die Kölner Progressiven waren nach der Auflösung des Dada in Köln entstanden und waren auf eine besonders radikale marxistische politische Agenda ausgerichtet. Sie wurden jedoch im Allgemeinen von den üblichen kunsthistorischen Berichten über die revolutionäre Kunst der Weimarer Zeit marginalisiert, was vor allem auf ihr fortwährendes Engagement für die Rolle der Staffeleimalerei im Zeitalter der radikalen Politik zurückzuführen ist, obwohl sie einen spürbaren Kampf gegen sie führen.“Wulf Herzogenrath, in Dadamax und Grüngürtel 1972
Die frühe künstlerische Herkunft einiger der mit den Kölner Progressiven assoziierten Künstler lag im Expressionismus, von dem aus sie sich, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zunehmend politisiert, weiterentwickelten. Nahezu alle hatten sich an der 1919 um Max Ernst und Johannes Theodor Baargeld entstandenen Kölner Dada-Bewegung beteiligt. Zu den assoziierten Künstler zählen weiterhin Hans Arp, Hans Bolz, Angelika und Heinrich Hoerle, Anton Räderscheidt, Otto Freundlich und Franz Wilhelm Seiwert.
Im Jahr 1919 veröffentlichten sie die erste Ausgabe ihrer Zeitschrift ‚Der Ventilator‘. Eine der wichtigsten Ausstellungen zur Kölner Dada-Bewegung fand ebenfalls 1919 im Kölnischen Kunstverein statt. Zu diesem Anlass erschien der Katalog ‚Bulletin D‘. Doch schon währenddessen distanzieren sich Seiwert und Hoerle von der Ausstellung. Sie „hielten 1919 die künstlerischen Vorstellungen von Max Ernst und seinen Freunden für zu sehr allein kunstbezogen und daher „bürgerlich“, weil sie mehr auf die Revolution der Ästhetik und der Provokation der bürgerlichen Kunstvorstellung abzielten.“2 Nachdem auch Max Ernst sich immer mehr in Richtung der internationalen Dada-Zentren Zürich und Paris orientierte und schließlich Köln 1992 verließ, endete das Kölner Dada-Kapitel.
Die Entwicklungen um die Dada-Ausstellung im Kölner Kunstverein spielte für Seiwert und Hoerle eine wichtige Rolle für ihre weitere künstlerischen Zusammenarbeit. Im Verlauf der 1920er Jahre formierte sich um sie ein neuer Künstlerkreis. Bereits 1920 erschien die erste Auflage von ‚stupid‘, dem ersten Organ der Kölner Progressiven. Darin waren Werke von Angelika und Heinrich Hoerle, Anton Räderscheidt, Marta Hegemann, Wilhelm Fick und Franz Wilhelm Seiwert vertreten. Ende der 1920er Jahre rief Hoerle als gemeinsames Organ der Gruppe die Zeitschrift ‚a bis z ins Leben‘, die zwischen 1929 und 1933 veröffentlicht wurde. Eine zentrale Frage suchten alle Kölner Progressiven parallel zu ihren individuellen Arbeiten zu beantworten: Wie ist Kunst und Politik miteinander zu vereinbaren?
Die Kölner Progressiven mit ihrer sachlich-geometrischen Bildsprache und ihrem graphisch reduzierten Realismus spielen eine Sonderrolle in der Geschichte der Moderne und in der Geschichte der politischen Kämpfe. Einerseits strebten sie, wie bereits skizziert, eine praktisch-konkrete, in jedem Sinn zeichenhafte politische Kommunikation an, andererseits verloren sie deshalb die internationale künstlerische Avantgarde nicht aus dem Blick. Sie hielten Verbindung zu Protagonisten der Zeit, zu Künstlern, für die Kunst einen sozialen Wert besaß. Museum Ludwig, Ausst.-Kat. Köln 2008.
Im Jahr 1926 präsentierte der Kölner Kunstsammler Kasimir Hagen (1887 – 1965) Teile seiner Sammlung in der Richmodgalerie, die sich in den Privaträumen seines Hauses am Kölner Neumarkt befand. Sein Interesse an der Kunst war sehr breit aufgestellt und entspannte sich vom Mittelalter über die Moderne bis hin zu Positionen seiner Gegenwart. So verwundert es nicht, dass er dieser Ausstellung den Titel ‚Neue Kunst, Alte Kunst‘ gab. Hagen interessierte sich als Sammler für eine Gruppe Kölner Künstler, die er selbst als „Gruppe progressiver Maler“ beschrieb. Zu ihnen zählten Jankel Adler, Gert Arntz, Max Ernst, Marta Hegemann, Heinrich Hoerle, Anton Räderscheidt, Franz W. Seiwert, Gert Wollheim und weitere. Vor allem zu Anton Räderscheidt und Heinrich Hoerle pflegte er persönliche Freundschaften.
Für den Katalog, der anlässlich Neue Kunst, Alte Kunst (1926) erschien, ließ Hagen vom Kölner Fotografen August Sander Portraits der Künstler anfertigen, die gemeinsam mit deren Werken gezeigt wurden.Diese Episode aus der Kölner Kunstgeschichte der 1920er Jahre zeigt anschaulich, dass August Sander ein fester Bestandteil des künstlerischen Netzwerks der Stadt war. Sanders eigene Werke waren zwar nicht in Kasimir Hagens Ausstellung ‚Neue Kunst, Alte Kunst‘ zu sehen, jedoch spielte er und seine Arbeit eine wichtige Rolle für ihre eigene Wahrnehmung und Inszenierung der Künstler.
Neben der Malerei zählten Druckgrafik, Zeichnung, Plastik und der Holzschnitt zu den verwendeten Medien der Kölner Progressiven. Insgesamt lässt sich feststellen, dass es vor allem die künstlerische Vielseitigkeit war, die sie bei ihrem Ansatz verband, ihr politisches Anliegen zu kommunizieren.
In den 1930er Jahren wuchs die „gruppe progressiver künstler“ und umfasste nun eine Vielzahl internationaler Bildender Künstler, von Schreibern und Gleichgesinnten ganz zu schweigen.Lynette Roth, Ausst. Kat. Köln 2008.
Zu Anfang der politisch bewegten 1930er Jahren stand die Malerei jedoch unter heftiger Kritik: Die populäre zeitgenössische Malereikritik3 verdammte die akademische Nutzung dieses traditionellen Mediums; die KPD rief Kunst als Waffe aus und drängte darauf, die Malerei gar ganz durch Druckmedien oder Fotografie zu ersetzen. Ziel war es, die Kunst als politisches Ausdrucksmittel an die Öffentlichkeit zu bringen. Während der gesamten Weimarer Republik erkundeten Seiwert und andere Mitglieder der Progressiven die haptischen Möglichkeiten verschiedener Medien; Ziel war es, den Arbeiter-Betrachter zu aktivieren.“4 Vor allem das Druckmedium erkannten sie als geeignetes Medium, um ihre politisch-künstlerischen Impulse zu verbreiten.
Ungeachtet dessen zeigt sich im Werk von Seiwert und Hoerle, dass sie an der Malerei als Medium weiterhin festhielten: „Obwohl sie um 1930 immer noch dieselben Themen behandelten wie zuvor, taten Hoerle und Seiwert dies nun fast ausschließlich auf der Leinwand – mit hellen Farben und in extrem pastoser Faktur. Es ist bemerkenswert, dass die Malerei von Hoerle und Seiwert trotz der überwältigenden Dominanz der neuen Technologien von einigen wichtigen Kritikern, die sich mit der sozialen Seite des Mediums beschäftigten, freundlich aufgenommen wurde.“5
Die Kölner Progressiven nutzten die Beteiligung an linksgerichteten politisch-künstlerischen Zeitschriften als Ausdrucksmittel für ihre Arbeit. Mit Beiträgen in Text und Bild waren sie an einer Vielzahl regionaler, deutscher und internationaler Zeitungen und Pamphlete beteiligt. Hierzu zählen die rheinische kommunistische Zeitschrift ‚Sozialistische Republik‘; die pazifistische Zeitschrift ‚Die Aktion‘, die Wochenzeitung ‚Die Proletarische Revolution‘; die britische Zeitschrift ‚Worker’s Dreadnought‘; die amerikanische Zeitschrift ‚The Liberator‘ und weitere mehr. „Etliche dieser Zeitungen hatten ihre Leser in der Arbeiterschaft – ein ideales Publikum für Künstler, die mit ihrer politischen Botschaft möglichst viele erreichen wollten.“6
Obwohl die Malerei ein zentrales künstlerisches Ausdrucksmittel der Kölner Progressiven blieb, verstanden sie auch die Fotografie für ihre Sache zu nutzen. Mit Hilfe fotografischer Reproduktionen, die oft von August Sander angefertigt wurden, fanden nicht nur Texte und Druckgrafik ihren Weg in die politischen Artikel und Zeitschriften, sondern auch reproduzierte Gemälde. Seiwert pries die sogenannte ‚Neue Fotografie‘ für die dokumentarischen Möglichkeiten, die sie bot. „Gerade das dokumentarische Potenzial des neuen Mediums hatte, so Seiwert, die Malerei von der mimetischen Abbildung befreit und sie neuen Zielen geöffnet.“7
Die Kölner Progressiven nutzten die Möglichkeiten der Fotografie aus, um Kunstwerke zu dokumentieren und sie einem größeren Publikum vorzustellen. Von August Sander angefertigte fotografische Reproduktionen wurden von den Kölner Progressiven zu Ausstellungszwecken genutzt, so beispielsweise auf der sowjetischen Ausstellung ‚Revolutionärer Kunst des Westens‘ (Moskau 1926).8
Die Begeisterung der Progressiven über die Möglichkeit, ihr Werk mit der Fotografie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, war untrennbar mit Sanders minutiösem Herausarbeiten aller Feinheiten der jeweiligen Oberfläche verbunden. […] Die Künstler lobten wiederholt die Reproduktionen des Fotografen und ermunterten ihn, die „plastische“ oder taktile Qualität ihrer Arbeit einzufangen. […] Sanders eigenes Interesse an „exakter Fotografie“ macht sein Schaffen zu einem wichtigen Bestandteil des malerischen Anliegens bei den Kölner Künstlern.Museum Ludwig, Ausst.-Kat. Köln 2008.
Im Jahr 1952 widmete Hans Schmitt-Rost seinen ehemaligen Freunden aus dem Zirkel der Kölner Progressiven eine der ersten Ausstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg. 1975 zeigte der Kölnische Kunstverein mit ‚Vom Dadamax bis zum Grüngürtel‘ eine umfassende Ausstellung über Dada Köln und die Kölner Progressiven. Über dreißig Jahre später zeigte das Museum Ludwig 2008 die Ausstellung ‚köln progressiv 1922. seiwert – hoerle – arntz‘ mit Fokus auf die drei Hauptvertreter der Gruppe.
Franz Wilhelm Seiwert (1894, Köln – 1933, Köln): Seiwert war Mitglied der Kalltalgemeinschaft, einer expressionistischen Enklave in dem abgelegenen Dorf Simonskall in der Eifel. Dort begann er, Schriften von Karl Marx, Rosa Luxemburg und anderen zu lesen. Diese Lektüre und die „Gegnerschaft zur Grausamkeit“ habe ihn zu einem eingefleischten Marxisten gemacht. Wie Hoerle wird er Mitglied der Kölner Dada-Gruppe, der unter anderem auch Max Ernst angehörte.
Heinrich Hoerle (1895, Köln – 1936, Köln): Mitglied der Kölner Dada-Gruppe. Herausgeber der Zeitschrift ‚a bis z‘.
Angelika Hoerle (1899-1923): Angelika Hoerle, geborene Fick, wohnte gemeinsam mit ihrem Mann Heinrich Hoerle in Köln Lindenthal, nur wenige Minuten von August Sanders Studio entfernt.
Gerd Arntz (1900, Remscheid – 1988, Den Haag): Seit 1929 künstlerischer Leiter des vom Philosophen und Soziologen Otto Neurath geführten Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums. Dort entwickelte er eine Piktogrammsprache, die statischen Diagramme und Ziffern ersetzen und international verständlich sein sollte.
Weitere Positionen: Marta Hegemann (1894, Düsseldorf – 1970, Köln); Anton Räderscheidt (1892, Köln – 1970, Köln); Augustin Tschinkel (1905, Prag – 1983, Köln); Hans Schmitz, Gottfried Brockmann (1903, Köln – 1983, Kiel).